Stadtratsfraktion

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PM 3: Offener Brief zu den Geschehnissen am 19. Januar 2008

Sehr geehrter Herr Lottmann, den 19. Januar 2008 habe ich – wie Sie teilweise auch – im Demonstrationszug des „Bündnis gegen Rechts" erlebt. Dieser unübersehbare und farbenfrohe Protestzug war – nicht zuletzt auch durch die Teilnahme des Innenministers und des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Magdeburg– ein wirksames und wie ich meine eindrucksvolles Zeichen, dass die Landeshauptstadt Magdeburg nicht gewillt ist, ihre Straßen den Nazis zu überlassen!

22.01.08 – von Sören Herbst –

Sehr geehrter Herr Lottmann,

den 19. Januar 2008 habe ich – wie Sie teilweise auch – im Demonstrationszug des „Bündnis gegen Rechts" erlebt. Dieser unübersehbare und farbenfrohe Protestzug war – nicht zuletzt auch durch die Teilnahme des Innenministers und des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt Magdeburg– ein wirksames und wie ich meine eindrucksvolles Zeichen, dass die Landeshauptstadt Magdeburg nicht gewillt ist, ihre Straßen den Nazis zu überlassen!

Umso mehr hat es mich und viele andere erstaunt miterleben zu müssen, wie wenig die polizeiliche Praxis – in der Gesamtbewertung – an diesem Tag diesem Wunsch der Magdeburgerinnen und Magdeburger Rechnung getragen hat- im Gegenteil. Auch die anscheinend mangelnde Bereitschaft, im nachhinein Fehler einzugestehen, erinnert mich an Zeiten polizeilicher Informationspolitik im Land Sachsen-Anhalt, die wir längst überwunden geglaubt hatten.

Mir ist bewusst, dass Sie es als Ihre Pflicht ansehen, sich als Dienstvorgesetzter bei Vorwürfen schützend vor Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stellen. Wenn Sie jedoch, wie in der Ausgabe der Magdeburger Volksstimme vom 22. Januar 2008, behaupten, dass Sie unter den gleichen Bedingungen wieder genauso handeln würden wie am vorausgegangenen Samstag, kann ich nur den Kopf schütteln, denn das polizeiliche Handeln an diesem Tag gehört – nicht in Gänze, aber doch in erheblichem Maße – zu den denkbar schlechtesten Zeugnissen, die man erhalten kann.

Ihre Behörde scheint derweil eine Rechtfertigungshaltung eingenommen zu haben, die mir nicht angemessen erscheint. Bitte bedenken Sie die vielfachen Bemühungen, die im Land Sachsen-Anhalt und in Magdeburg unternommen werden, um den Kampf gegen Rechtsextremismus mit Erfolg zu führen. Vor diesem Hintergrund – insbesondere auch in Kenntnis Ihres mir bekannten persönlichen Engagements gegen Rechts – ist das Handeln der Polizei am Sonnabend nicht zu rechtfertigen.

Fakt ist: Ein genehmigter Zug linker Demonstrierender und ein genehmigter Zug rechtsextremer Demonstrierender drohten nach Einschätzung der Polizei zu nahe aneinander zu geraten. In der Abwägung entschied sich die Polizei, den Zug der Rechtsextremisten zuerst passieren zu lassen und hielt den Zug der Antifa für mehrere Stunden fest.

Nach meiner Einschätzung wäre es ohne weiteres möglich gewesen, den linken Zug auf seiner Route weiter laufen zu lassen. Die Veranstalter hatten angeboten auf geplante Zwischenkundgebungen zu verzichten, um Zeit wieder gut zu machen. Die Antifa-Demonstration wäre so längst weg gewesen, wenn die Neonazis ihren Demozug begonnen hätten.

Fakt ist: Hätte die Polizei nicht auch selbst für Verzögerungen des linken Zuges gesorgt, hätte dieser Zug die in den Auflagen festgelegten Wegmarken rechtzeitig passieren können. Den Zug später (auf Grund durch die Polizei selbst mit verursachter Verzögerungen) mit der Begründung anzuhalten, er sei zu spät, ist schwer nachvollziehbar.

Fakt ist: Zunächst wollte die Polizei den linken Demonstrationszug aufgrund der nicht eingehaltenen Auflagen sogar auflösen. Dass es nicht dazu kam, ist lediglich externer Vermittlung zu verdanken. Bereits die Überlegung mitten in der Stadt, in unmittelbarer Nähe zu unbeteiligten Passanten einen friedlichen Demonstrationszug auflösen zu wollen, erscheint recht wagemutig. Ich darf Ihnen versichern, dass eine dabei in Kauf genommene Straßenschlacht nicht im Interesse der Stadt Magdeburg gewesen wäre.

Fakt ist: Der linke Demozug wurde nicht aufgelöst. Er wurde jedoch dennoch unter Gewalteinwirkung am Weitergehen gehindert. Dabei wurde durch massiven Einsatz von Reizstoffen und Einsatzstöcken stets die gesamte Gruppe getroffen, wobei es viele Verletzte gab. Straftaten sind aus dem Zug heraus nicht bekannt geworden, zumindest konnte ich keine solche erkennen. Es wurden auch keine Straftäter aus dem Zug heraus festgenommen, wie es die Aufgabe der vor Ort anwesenden Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten gewesen wäre, wenn Straftaten verübt worden wären.

Stattdessen ist dokumentiert, dass die Demoteilnehmer lediglich in zivilem Ungehorsam gehandelt haben, indem sie sich mit erhobenen Händen langsam nach vorn bewegten. Ebenso ist dokumentiert, dass die Demoleitung ausdrücklich über Lautsprecher zur Gewaltfreiheit aufrief. Die daraufhin mehrfach einsetzenden Angriffe der Polizei sind nicht zu rechtfertigen. Wie gesagt, die Demo war zu diesem Zeitpunkt nicht (sic!) aufgelöst.

Fakt ist: Die vor Ort eingesetzten Beamten der Landesbereitschaftspolizei Sachsen und Sachsen-Anhalt befolgten mehrfach nicht unverzüglich die Entscheidungen der Führungsebene. Die polizeiliche Kommunikation vor Ort war von spürbarer großer Anspannung und offensichtlichen Kommunikationsmängeln gekennzeichnet. Es entstand der Eindruck, dass der vor Ort anwesende Leiter der Versammlungsbehörde der Polizei um jeden Preis durchsetzen wollte, dass der Antifa-Demonstrationszug vor Ort festgehalten werden sollte.

Fakt ist: Die Entscheidung, den Neonazis eine Abmarsch-Route entlang des Mahnmals für die in der Reichspogromnacht zerstörte Magdeburger Synagoge zu genehmigen, setzt den merkwürdigen Entscheidungen der Polizei vom 19. Januar denn auch nur noch die Krone auf.

Sehr geehrter Herr Lottmann,

die Konsequenzen aus dem polizeilichen Handeln des 19. Januars sind bekannt: Die Neonazis konnten einen grotesken „Trauermarsch" durch die gesamte Innenstadt, inklusive symbolisch wichtiger Kundgebung auf dem Alten Markt und Abmarsch vorbei am Synagogen-Denkmal vollziehen. Um diesen „Trauerzug" ungestört durchsetzen zu können, wurde ihm unbedingter Vorrang vor anderen Veranstaltungen gegeben. Ein friedlicher Antifa-Demonstrationszug wurde in drei Wellen von der Polizei gewaltsam angegriffen, wobei es Verletzte gab.

Die Stadt Magdeburg wünscht keine Demonstrationen und Kundgebungen von Neonazis! Dies ist auch am 19. Januar noch einmal durch Vertreter aller demokratischen Parteien betont worden, auch vom Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam, Stadt und Polizei, alles daran setzen, dass wir solche polizeiliche Entscheidungen nicht noch einmal in Magdeburg erleben müssen.

Während des Einsatzes hat auch der vor Ort anwesende Ordnungsbeigeordnete der LHS Magdeburg deutlich gemacht, dass er das Handeln der Polizei nicht vollends nachvollziehen kann. Ich denke, dass man darüber nachdenken sollte, die Ordnungsbehörde der Landeshauptstadt Magdeburg mehr in die Verantwortlichkeiten bei derartigen Großveranstaltungen einzubinden- und zwar nicht nur nachrichtlich. So sollte ein hochrangiger Vertreter der Ordnungsbehörde der LHS Magdeburg im Führungsstab bei wichtigen zu treffenden Entscheidungen beteiligt werden. Dies kann auch über die Einrichtung einer Stabsstelle geschehen.

Ich verbinde diesen Brief mit der Hoffnung, dass sich die Ereignisse des 19. Januar 2008 lückenlos aufklären lassen. Ich denke, dass dies nicht der richtige Moment ist, sich auf formaljuristische Positionen zurück zu ziehen und das Geschehene im Nachhinein schön zu reden. Damit haben wir in Sachsen-Anhalt in Bezug auf den Kampf gegen Rechts hinreichend schlechte Erfahrungen gemacht.

Mit freundlichen Grüßen, Ihr

Sören Herbst
Stellvertretender Fraktionsvorsitzender BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
im Magdeburger Stadtrat, ordnungspolitischer Sprecher

 

Kategorie

Demokratie | Presse | Rechtsextremismus