Redebeitrag Stadtrat Jürgen Canehl in der Stadtratssitzung am 07.03.2024 zur aktuellen Debatte zu den „Straßenbahnausfällen“

07.03.24 –

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
sehr geehrter Herr Vorsitzender des Stadtrates,
sehr geehrte Stadtratskolleginnen und -kollegen,
sehr geehrte Gäste,

unsere Fraktion hielt es inzwischen für dringend geboten, das Thema „Ausfälle im Straßenbahnverkehr“
anzusprechen.

Ich will aber für alle, die uns zuhören, noch einmal darauf hinweisen, dass die MVB eine
hundertprozentige Tochter der Landeshauptstadt. Der Stadtrat hat einen klaren Auftrag erteilt, welche
Verkehrsleistungen zu erbringen sind – also zum Beispiel Straßenbahnverkehr tagsüber von montags
bis freitags im 10-Minuten-Takt.

Jetzt zum Hauptärgernis zu den Straßenbahnausfällen.

Schon seit Anfang 2023 kommt es an Werktagen, also montags bis freitags, zu massiven Ausfällen
bei den Straßenbahnen.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an meine Anfrage F0272/23 vom Oktober.

Auf Frage 2 – „Wieviel Ausfälle gab es von Januar bis Juli 2023?“ - erhielten wir vom zuständigen Dezernat
die lapidare Auskunft:
„Gemäß Information der MVB werden die Daten zu einzelnen Fahrtausfällen wegen des damit verbundenen
großen Aufwandes nur einmal im Jahr generiert (im ersten Halbjahr des Folgejahres für das
Vorjahr). Für das Jahr 2023 liegen somit keine Angaben hierzu vor.“

Nun sind die Ausfälle noch häufiger geworden und es ist höchste Zeit, dass wir im Stadtrat die Fragen
stellen, wie es zu den massiven Ausfällen kommt und was man bei der Stadt und dem mit dem Nahverkehrsleistungen
beauftragten Unternehmen tun kann, um den Fahrgästen wieder einen
verlässlichen und pünktlichen ÖPNV zu garantieren.

In den ersten beiden Februarwochen erreichten die Ausfälle ihren vorläufigen Höhepunkt. In diesem
Zeitraum fielen an einigen Tagen bis zu acht Straßenbahnfahrzeuge gleichzeitig aus. Damit haben
sich diese Ausfälle an diesen Tagen auf bis zu 140 Fahrten im Zeitraum von 5.00 bis 18.00 Uhr
summiert. Das sind etwa 10 Prozent des gesamten Angebotes im Straßenbahnlinienverkehr.

Auf dem Bildschirm sehen Sie als Ausschnitt die von der INSA in der Rushhour dokumentierten
Ausfälle vom 04.03.2024 zwischen 6:00 und 9:00 Uhr am Alten Markt.

Was bedeutet das nun für die Nutzer*innen des Bahnangebots?

• Eltern und Lehrer beschweren sich, dass Schülerinnen und Schüler häufig zu spät zum Unterricht
kommen.
• Arbeitnehmer*innen erreichen nicht pünktlich ihre Arbeitsstelle.
• Medizinisches Personal aus der Kranken- und Altenpflege kommen nicht pünktlich zur
Dienstübergabe.
• Student*innen der Hochschule Magdeburg/Stendal im Herrenkrug verpassen Ihre Vorlesung.
• usw.

Keine Frage. Es handelt sich um Störungen, die stark in das öffentliche Leben der Landeshauptstadt
eingreifen.
Die Ausfälle sind inzwischen Stadtgespräch. Im Ergebnis ist der Ruf eines verlässlichen und
pünktlichen Nahverkehrs erst einmal dahin. Potenzielle Fahrgäste wählen wegen der Ausfälle andere
Verkehrsmittel und gehen möglicherweise dem ÖPNV verloren.

Auf die gestern gegen 16:00 Uhr von der MVB an alle Fraktionen verschickte Stellungnahme gehe ich
im Paket abschließend noch einmal ein. Es ist eine völlig unangemessene Schönfärberei der
Probleme.

Jetzt das zweite Ärgernis: Der Einsatz verkürzter Straßenbahnzüge

Im täglichen Linienverkehr kommt es offenbar vermehrt zum Einsatz von verkürzten Straßenbahnzü-gen. Die zum Einsatz als Doppeltraktion vorgesehenen Berliner Tatras , verkehren stattdessen als Einzelfahrzeuge. Das führt zu überfüllten Bahnen. Im Berufs- und Schulverkehr müssen Fahrgäste an Haltestellen oft frustriert zurückbleiben.

Angebotskürzungen aufgrund von Baustellen

Des Weiteren müssen die Fahrgäste seit einiger Zeit deutliche Angebotskürzungen aufgrund von Bau-stellen hinnehmen. So entfällt die Linie 8 seit mehreren Jahren komplett oder verkehrt nur noch 4x pro Tag. Nur noch mit den Linien 2, 3 und 9 erreicht man das südliche Stadtzentrum. Die Linien 5 und 10 sind derzeit deutlich verkürzt und verkehren teilweise nur in Außenrandbezirken.

Neulich hat die Fraktion Die Linke einen Antrag eingebracht, demnach die MVB die Straßenbahnaus-fälle auf den Fahrgastinformationen an den Haltestellen angegeben sollen. Das ist sicher erst einmal sinnvoll, darf dann aber nicht Gewohnheit werden. Ziel muss es natürlich sein, dass diese Displayanzeigen so selten als möglich erscheinen.

Das alles ist auch deshalb sehr ärgerlich, weil wir uns hier im Stadtrat für das Schüler*innenticket eingesetzt haben, um diese Zielgruppe noch mehr für den ÖPNV zu gewinnen und das Problem der Elterntaxis vor den Schulen damit zu entschärfen.

Auch durch die Einführung des 49-Euro-Ticketes hatte die MVB ja einen Fahrgastzuwachs verzeichnen können. Diese Entwicklungen werden nun jedoch durch die massiven Ausfälle im Straßenbahnverkehr wieder zunichte gemacht.

Wo liegen nun die Ursachen der Misere?

Meine bisherige Vermutung war, die MVB hat zu wenig Straßenbahnfahrer*innen.
Das soll momentan nicht das Problem sein. Mir wurde aber berichtet, dass es häufig vorkommt, dass die Fahrer*innen früh morgens zum Betriebshof kommen und es keine Bahn gibt, die sie rausfahren können. Alle Ausfälle liegen derzeit zu über 90 % an fehlenden funktionsfähigen Bahnen.

Schon in der schon angesprochenen Stellungnahme S0469/23 auf meine Anfrage vom Oktober haben wir ein wenig über die Werkstattprobleme erfahren: „Die Ursachen lassen sich im Wesentlichen auf die höheren ungeplanten Laufleistungen der Straßen-bahnen im Zusammenhang mit den Umleitungen aufgrund verschiedener Baumaßnahmen, wie EÜ ERA oder Ersatzneubau Strombrückenzug und auf massive Marktverwerfungen im Zusammenhang mit dem aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine zurückführen.“

Es wurde also versäumt, rechtzeitig die aus der erhöhten Kilometerleistung entstehenden früher notwendig werdenden Wartungstermine zu beachten. Wer trägt dafür die Verantwortung?

Und natürlich die neuen Straßenbahnen wurden viel zu spät bestellt. Die Lieferung des ersten Vorseri-enfahrzeugs ist zwar in der schon genannten Stellungnahme für das 3. Quartal versprochen, aber technisch bedingt stehen die ersten beiden Neufahrzeuge frühestens ab Ende 2025 für den Fahrgasteinsatz zur Verfügung.

Aber zurück zu den Werkstätten. Das vorhandene Material muss in Ordnung gehalten werden.

Derzeit stehen nach Angaben der MVB zwölf Straßenbahnfahrzeuge in den MVB eigenen Werkstätten, die aufgrund fehlender Hauptuntersuchungen (Straßenbahn-TÜV) nicht genutzt werden dürfen. Gestern schreibt uns die MVB: „Aktuell sind mehrere Niederflurstraßenbahnen abgestellt.“ Das ist eine Verharmlosung. Das sind 1/6 der Niederflurstraßenbahnen, die nicht zur Verfügung stehen, also 15 % ! Im März wird eine weitere Tatra-Straßenbahn älterer Bauart, die jetzt noch im Linienbetrieb unterwegs ist, außer Dienst gestellt.

Um den Fahrgästen nicht weitere Jahre diese massiven Fahrtenausfälle zuzumuten, bedarf es jetzt kurz- und mittelfristiger Anstrengungen durch die MVB, um schnellstmöglich mehr Fahrzeuge für den täglichen Linienverkehr zur Verfügung zu stellen.

Was gibt es für Lösungsvorschläge? Wir hätten drei!

1. Gewinnung von zusätzlichem Personal für die Werkstätten, um die eigenen Werkstattka-pazitäten zu erhöhen
2. Einführung bzw. Ausweitung von Nachtschichten, um die Fahrzeuge morgens wieder einsatzfähig zu haben.
3. Hauptuntersuchungen und Instandsetzungen lässt man teilweise von externen Werkstätten durchführen.

Zum letzten Punkt ein Beispiel, wie es andere Verkehrsbetriebe machen:
(Bild aus der Web-site der Rostocker Straßenbahn)

Die Leipziger Firma IFTEC GmbH & Co KG saniert im Auftrag der Rostocker Straßenbahn AG insge-samt 10 Niederflur-Bahnen Baujahr 1994 bis 1996, damit sie weitere zehn Betriebsjahre fahren kön-nen.

https://blog.rsag-online.de/blog-uebersicht/detail/die-erste-sanierte-bahn-ist-zurueck-in-rostock

Nun kurz zur gestrigen Stellungnahme der MVB

Wir wollten mit der Debatte aufmerksam machen auf eklatante Probleme, Ursachen eruieren und Lösungsvorschläge in die Diskussion bringen.
Wir sehen uns eigentlich als Partner der MVB. Für uns ist der Öffentliche Nahverkehr die wesentliche Stütze für eine echte Mobilitätswende.
Stattdessen fühlt sich die MVB angegriffen. Verweigert die Teilnahme an einem von uns angedachten Diskussionsforum zum ÖPNV und statt uns hier im Stadtrat für Auskünfte zur Verfügung zu stehen, erhalten wir rund 24 Stunden vor der Debatte plötzlich alle eine Stellungnahme.

Herr Stadtratsvorsitzender erlauben Sie mir, auf zwei Falschmeldungen aus der Stellungnahme einzugehen:
Die 42 Mio. Fahrgäste in 2023 sind kaum ein Grund zu feiern. Schon 2015 hatte die MVB 44,1 Mio. – also 2 Mio. mehr – als letztes Jahr. Das ist angesichts des Baustellenverkehrs usw. zu den Erhöhungen gekommen ist, hat aber zwei Ursachen:

- das 9 €-Schüler*innenticket und
- das 49 €-Ticket

Erinnern wir uns: anfangs hat die MVB beide Dinge schlecht geredet.

Einen letzten zweiten Punkt habe ich mir heute früh noch einmal aus der Verlautbarung angeguckt:
Wenn im Dezember laut MVB fast 4 % der Straßenbahnfahrten ausgefallen sind bei nur 16 Schultagen, an denen der 10-Minuten-Takt gilt, komme ich tatsächlich auf eine Ausfallquote von 8 bis 10 % an den Schultagen!

Es ist schon erstaunlich, wenn Frau Münster-Rendel dann formuliert: „In der Gesamtbetrachtung ist festzustellen, dass die Ausfälle nicht massiv sind.“

Ich freue mich nun auf die Stellungnahme der anderen Fraktionen und danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

Stadtrat Jürgen Canehl


Es gilt das gesprochene Wort.

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Presse